EU neu denken

Von | 3. Juli 2023

Europe first – eine Abhängigkeitserklärung

Ein Gastkommentar von Daniel Dettling

«Der einzige Weg, unsere Zukunft zu sichern, ist die Neubegründung eines souveränen, geeinten und demokratischen Europa.»
(Emmanuel Macron)


«Europa» bedeutet altgriechisch «die Frau mit der weiten Sicht». Europa sind heute Ziel und Begründung abhandengekommen. Doch das neue Europa ist auf dem Weg: Es entsteht durch seine Krisen und nicht gegen die Nationalstaaten, sondern quer zu ihnen. Sein Ort sind die europäischen Städte und Regionen. Nicht als unabhängige, sondern als wechselseitig abhängige Einheiten. Seine Akteure sind Bürger und Bürgermeister. Das Europa der Zukunft ist weder ein Staat noch ein Klub von Separatisten, es ist ein föderales Netzwerkprojekt des 21. Jahrhunderts.

Die Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron an der Sorbonne im vergangenen Herbst hat eine neue Debatte um die Zukunft der Europäischen Union entfacht. Mit seiner Vision von einer Neugründung Europas hat sich Macron vor allem an Deutschland gewandt. Nicht mehr das Modell der Meritokratie, der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit, soll das europäische Narrativ bestimmen. Macron will die EU nicht mehr aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft begründen: Europa soll «souveräner, geeinter und demokratischer» werden – unabhängiger nach aussen und abhängiger nach innen.

Anhaltende europäische Depression

Die Ursachen und Folgen der anhaltenden europäischen Depression analysiert der bulgarische Politikwissenschafter Ivan Krastev in seinem jüngsten Essay, «Europadämmerung». Galten offene Grenzen 1989 noch als Zeichen von Freiheit und Wohlstand, haben sie inzwischen zum Symbol der Unsicherheit mutiert. Was 1989 als demokratische Revolution begann, hat sich heute in eine demografische Gegenrevolution verwandelt. Eine moralische Panik breitet sich aus: die Angst vor Migranten und einer von Robotern getriebenen Transformation der Arbeitswelt. Der neu-alte Populismus verspricht den Menschen ein Zurück in die «gute alte Zeit», in der Migranten noch Gastarbeiter hiessen und Maschinen ihnen nicht gefährlich wurden.

Der Mangel an Sinn, Alternativen und Zukunftsoptimismus ist die zentrale Ursache der europäischen Depression. Demokratie braucht Wahlmöglichkeiten, Souveränität braucht Bedeutung, und Globalisierung braucht Legitimation. Der Widerspruch der real existierenden Demokratie in Europa ist, dass die Bürger zwar freier sind, sich aber machtloser fühlen. Profiteure der neuen Spaltung zwischen den politischen und wirtschaftlichen Eliten und den Bürgern in Europa sind die Populisten. Sie versprechen ihren Wählern Identität und Intimität, Gefühl und Zugehörigkeit.

Die Forderung nach mehr Europa und einer stärkeren Integration ruft bei den Bürgern längst keine Begeisterung mehr hervor. Im Gegenteil. Das Ziel des jüngst neu gewählten SPD-Vorsitzenden Martin Schulz der «Vereinigten Staaten von Europa» stärkt die Ablehnung der Bürger gegen Brüssel noch. Für sie besteht Europa nicht aus einer Hauptstadt, sondern aus vielen. Sie wollen nicht fremdbestimmt und majorisiert werden.

In Zeiten grosser Krisen erzeugt nicht zu viel Veränderung Unsicherheit, sondern das Festhalten an der bisherigen Politik. Die Bürger ahnen, dass die Rufe nach «mehr Europa» in Wahrheit Ausdruck einer alten Hilflosigkeit sind. Besonders auffällig ist diese in Deutschland. Während sich die deutsche Bundeskanzlerin bisher nicht zu Macrons Vorschlägen einer Neubegründung der EU geäussert hat, versucht der Vorsitzende der SPD diese noch zu übertreffen. Bis 2025 soll das Projekt der «Vereinigten Staaten von Europa» stehen, inklusive eines neuen Verfassungsvertrags und Volksabstimmungen. Wer nicht mitmacht, der soll rausfliegen.

Mehr Union plus mehr Region

Dabei wollen die Menschen nicht mehr Europa, sondern ein verändertes. Sie wollen nicht «mehr oder weniger», sondern «mehr und weniger». Souveräner und subsidiärer, supranationaler und föderaler, schneller und langsamer. Es geht um eine neue Balance zwischen Souveränität, Demokratie und Subsidiarität. Europa muss in Zukunft grösser und zugleich kleiner werden. «Grösser» bei den globalen und «kleiner» bei den regionalen Fragen. Vier Dimensionen europäischer Souveränität sollten dabei im Fokus stehen:

1. «Souveräner und geeinter» muss Europa bei der Bekämpfung der globalen Herausforderungen werden: Migration, Armut, Terror, Klima und Digitalisierung. Europa wird grösser und weiter denken müssen, wenn sich die USA aus dem Kontinent zurückziehen und Mächte wie China und Indien global stärker werden. «Souverän» führt vor allem, wer auf eine Politik des Ausgleichs setzt statt auf eine Politik der Alleingänge und der Nötigung.

Die EU muss den nächsten Schritt machen. Die Währungsunion ist ohne Fiskal- und Sozialunion unvollständig. Vor allem Deutschland muss seine Angst vor einer «Transferunion» ablegen, wenn es in Zukunft keinen höheren Preis zahlen will. Da nicht alle Mitgliedsländer über die gleiche Wirtschaftskraft verfügen, sollte eine kleine Gruppe als Avantgarde beginnen und vorangehen, wie dies bereits bei der Freizügigkeit (Schengen) und bei der Währungsunion (Euro) der Fall war. Angesichts der neuen globalen Sicherheitslage gehören auch die Verteidigungs- und die Energieunion sowie eine europäische Entwicklungspolitik und eine Partnerschaft mit Afrika auf die Agenda.

2. Die EU muss «demokratischer» werden. Ein Ausweg aus dem vielbeklagten Demokratie-Defizit wäre eine europäische Bürger-Union. Die Europäer wählen in Zukunft das Europäische Parlament nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch europaweit. Die erste Stimme geben die Bürger auf nationaler Ebene für nationale Parteien, die zweite Stimme für eine europäische Liste ab. Mit der zweiten Stimme werden die Spitzenkandidaten für die Präsidentschaft der Europäischen Kommission gewählt. Die Souveränitätsrechte der nationalen Parlamente würden somit nicht eingeschränkt, sondern ergänzt. «Demokratischer» – und hier bleibt Macron zu französisch-zentralistisch – heisst auch föderaler. Die EU muss von unten durch eine Stärkung der Regionen, Städte und Kommunen ergänzt werden.

3. «Subsidiär» ist die europäische Antwort auf die Globalisierung. In den Regionen, Städten und Gemeinden vor Ort entscheidet sich die Zukunft der Demokratie. Bürgermeister und Regionalpolitiker sind die Träger einer europäischen Bewegung für Inklusion, Umweltschutz und neue Mobilität. Die Welt hätte einen besseren Klimaschutz und intelligentere Mobilitätsformen, wenn Bürgermeister sie regieren würden. Die Antwort im globalen Kampf um die besten Ideen und Köpfe ist ein europäisches Netzwerk aus Schul-, Städte- und Hochschulpartnerschaften.

4. «Europe en Marche» ist auch eine Frage der Stimmung. Ein gemeinsames Gefühl der Zugehörigkeit und der Identität ist die stärkste Waffe gegen Zukunftspessimismus und Populismus. Anfangen sollte die Neugründung Europas daher mit der Jugend. Die jungen Europäer sind die besten Botschafter eines neu begründeten Europa. Drei Vorschläge: Jeder Europäer sollte in seiner Schulzeit mindestens ein halbes Jahr im europäischen Ausland gelebt haben. Zum 18. Geburtstag bekommt jeder EU-Bürger einen Interrail-Pass. Jede junge Frau und jeder junge Mann leistet vor ihrem bzw. seinem 25. Lebensjahr einen flexiblen Zivil- oder Militärdienst in einem europäischen Mitgliedsland.

Eine Neugründung Europas braucht keine Unabhängigkeitserklärung (Declaration of Independence), sondern eine Erklärung der wechselseitigen Abhängigkeit (Declaration of Interdependence). Nicht die Unabhängigkeit der einzelnen nationalstaatlich verfassten Mitgliedsländer macht Europa stark, es ist die Abhängigkeit voneinander. Bestrebungen nach regionaler Unabhängigkeit wie in Katalonien oder der Lombardei sind Ausdruck eines neuen lokalen Nationalismus. Aber nicht der Nationalismus hat Europa stark und innovativ gemacht, sondern eine intelligente Balance zwischen Autonomie und Abhängigkeit. Die autonome Republik Südtirol ist ein gutes Vorbild für das Europa von morgen.

Imperium und Heimat

Die europäische Abhängigkeitserklärung steht in der Tradition der Aufklärung. Ähnlich wie einst die Europäer nach Amerika übersiedelten und dort ihre Unabhängigkeit von Europa erklärten, sollte sich Europa seine wechselseitige Abhängigkeit eingestehen und sie feierlich erklären. Schon früh, im Jahr 2004, hat Jeremy Rifkin den langsamen Tod des Amerikanischen und das Entstehen eines europäischen Traums prognostiziert. Der europäische Traum definiert Freiheit und Sicherheit positiv. Frei sein bedeutet, Beziehungen zu anderen aufzubauen und zu pflegen. Mit den Beziehungen kommen ein Gefühl von Heimat und Geborgenheit sowie ein Sinn für das Symbolische – und damit Sicherheit.

Für ein solches Zukunftsprogramm braucht Europa ein neues Selbstverständnis: Führungsmacht nach aussen und Friedensmacht nach innen – Imperium und Heimat gleichermassen. Das europäische Modell des dienenden Führens und der wechselseitigen Abhängigkeit kann zum Vorbild für andere Staaten und Zusammenschlüsse werden. Seine neue Souveränität ist der Dreiklang aus Sicherheit, Stärke und Subsidiarität. Eine neue, zukunftsfähige Weltordnung entsteht. Europa gründet sich neu und wird zum Hoffnungsträger für eine bessere Welt. Das alte Europa ist tot. Es lebe das künftige Europa!

Daniel Dettling ist Gründer des Instituts für Zukunftspolitik und leitet das Berliner Büro des Zukunftsinstituts. Der Text ist ein gekürzter Auszug aus dem «Zukunftsreport 2018: Das Jahrbuch für gesellschaftliche Trends und Business-Innovationen». Weitere Informationen unter www.zukunftsinstitut.de.

Die Bürger ahnen, dass die Rufe nach «mehr Europa» in Wahrheit Ausdruck einer alten Hilflosigkeit sind.

Aus dem NZZ-E-Paper vom 17.01.2018

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