Wikimedia-Stiftung

Von | 10. November 2018

Katherine Maher, Geschäftsführerin der Wikimedia-Stiftung, nennt es «Vandalismus», wenn Fussballer in Wikipedia zu Volkshelden emporstilisiert werden.

https://www.tagesanzeiger.ch/panorama/leute/sportfans-schiessen-gerne-uebers-ziel-hinaus/story/13774789

Katherine Maher, gestern habe ich dieses Interview vorbereitet. Was habe ich wohl als Erstes getan?
Ich vermute, Sie haben meine Wikipedia-Seite aufgerufen.

Der Eintrag in Ihrem Lexikon war hilfreich. Allerdings ist der deutsche Text eher knapp. Da bietet sogar die estnische Version mehr.
Das überrascht mich nicht. (lacht) Kurz nachdem ich die Geschäftsleitung der Wikimedia-Stiftung übernommen hatte, entbrannte eine Diskussion: Bin ich genügend relevant, um einen Wikipedia-Eintrag zu kriegen? Die deutsche Gemeinschaft ist besonders streng. Offenbar bin ich wichtig genug, verdiene aber keinen allzu ausführlichen Artikel. 

Sie könnten den Eintrag raschselbstständig ergänzen. Oder beauftragen Sie doch eineMitarbeiterin damit. 
Nein, denn dies läuft unseren Grundsätzen zuwider. Die wichtigste Regel für Wikipedia-Autorinnen und Autoren ist: Schreibe keine Artikel über Personen oder Dinge, die dich persönlich betreffen. So versuchen wir, Interessenkonflikte zu vermeiden. Es ist schier unmöglich, neutral zu bleiben, wenns um einen selber, die Arbeitgeberin oder um eine Herzensangelegenheit geht. 

Oft ist unklar, wo diese rote Linie verläuft. Soll ich einen Artikel über einen berühmten Freund editieren?
Besser nicht. Lassen Sie das bleiben.

Ich singe in einem Chor. Soll ich den Eintrag unseres Vereins verbessern? 
Wenn Sie Infos haben, die noch fehlen, können Sie diese gerne einfügen. Aber nur, wenn Ihr Engagement im und für den Chor unentgeltlich ist.

Sie werden stets mit Ihrem vollen Vornamen angesprochen. Niemand verwendet die Kurzform Kate.
Woher wissen Sie das?

«Wir brauchen bei Wikipedia Männer wie Frauen, Menschen aus allen Regionen und Religionen, Intellektuelle wie Arbeiter.»

Dies hat eine Ihrer Arbeitskolleginnen auf der Diskussionsseite zu Ihrem Wikipedia-Eintrag vermerkt. Sie versucht damit, die Autoren auf einen Fehler aufmerksam zu machen, ohne selbst einzugreifen.
Das hat sie gut gemacht. Auf den Diskussionsseiten darf man gerne darauf hinweisen, wenn im Artikel Fakten nicht stimmen. Dabei sollte stets klargestellt werden, dass man die betreffende Person kennt.

Wie entstehen Wikipedia-Artikel normalerweise? 
Auf zwei Arten: Viele Artikel entstehen nach und nach aus kleinen Beiträgen von vielen Leuten. Typischerweise ist das der Fall bei grossen Ereignissen, wenn die Fakten erst nach und nach klar werden – etwa nach einem Tsunami. Die zweite Art: Jemand nimmt sich früh eines Themas an und schreibt einen umfassenden Artikel. Ist dieser gut gemacht und mit vielen Quellenhinweisen belegt, wird er im Laufe der Zeit nur noch in Details verändert.

Die Wikipedia zu editieren, ist einfach: Man klickt auf «Bearbeiten», tippt, speichert. Wie wird verhindert, dass die Enzyklopädie dazu missbraucht wird aus Fakes Facts zu machen? 
Einige Leute probieren das, aber es scheint nicht gut zu funktionieren. Denn Artikel lassen sich auch schnell wieder zurücksetzen. Entsprechend bleiben falsche Fakten meistens nur kurz online – insbesondere bei Artikeln zu kontroversen Themen oder Persönlichkeiten, an denen viele Leute mitarbeiten. Bei Artikeln zu Nischenthemen oder Fachartikeln hingegen ist die Gefahr grösser, dass falsche Infos länger stehen bleiben.

Prüfen die Betreiber der Wikipedia systematisch die Fakten?
Nein, die Wikimedia-Stiftung formuliert weder Regeln dazu, was im Lexikon stehen soll, noch nimmt sie inhaltliche Änderungen vor. Um beideskümmert sich ausschliesslich die Gemeinschaft. Wir versuchen, gute Rahmenbedingungen zu schaffen, sodass die freiwilligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter effizient zusammenarbeiten können, und die richtigen Hilfsmittel zu entwickeln.

Welche Hilfsmittel? 
Die Wikipedia beinhaltet derzeit 48 Millionen Artikel. Jede Minute werden 350 Änderungen gemacht. Gut 15 Millionen Anpassungen pro Monat – das ist viel für unsere 250 000 Mitschreiber. Deshalb haben wir einen lernfähigen Algorithmus entwickelt, der Edits erkennt, die möglicherweise problematisch sind. So stellen wir sicher, dass die richtigen Artikel von vielen Leuten geprüft werden.

Ist Vandalismus ein grosses Problem?
Am häufigsten haben wir Probleme im Bereich Sport. Fans schiessen gerne mal übers Ziel hinaus. Dann werden Fussballspieler zu Volkshelden emporstilisiert, oder ein Torwart wird zum «Verteidigungsminister» befördert. Vandalismus gibts oft auch bei kontroversen Themen. Bis verunstaltete Artikel wieder hergestellt sind, dauert es im Durchschnitt aber weniger als fünf Minuten. 

Subtiler gehen bezahlte Autoren vor. 
Die sogenannten Blackhat-Redaktoren werden von Unternehmen oder Persönlichkeiten engagiert, um Artikel zu beschönigen. Wer die Auftraggeber sind, wird aber nicht deklariert. Dies widerspricht unseren Nutzungsbedingungen. Bei der Wikipedia steht die Transparenz zuoberst. Wir wollen zeigen, wer was geschrieben hat und woher die Information stammt. Deshalb kann unter «Versionsgeschichte» jede Änderung nachverfolgt werden. Und deshalb ermuntern wir alle Mitschreiber dazu, auf den Autorenseiten allfällige Abhängigkeiten auszuweisen. Ein Wissenschafter kann viel beisteuern. Es ist aber wichtig, dass er sich als Fakultätsangehöriger einer bestimmten Universität zu erkennen gibt. 

Apropos Wissenschafter: Viele engagieren sich stark auf der Wikipedia. Was dazu führt, dass einige Artikel für Laien kaum noch lesbar sind.
Die Erwartungen an eine Enzyklopädie sind sehr unterschiedlich. Will ich zum Thema Wasser erst lesen, dass es sich dabei um eines der vier Elemente handelt? Oder interessiert die chemische Zusammensetzung? Von Mathematikern und Informatikern höre ich oft, dass die Fachartikel sehr gut seien. Laien müssen aber schon nach den ersten Abschnitten Forfait geben. Wir denken darüber nach, ob wir eine populäre und eine wissenschaftliche Gliederung anbieten könnten.

Derzeit blockieren die Türkei und China den Zugriff auf die Wikipedia. Wie gehen Sie damit um? 
Jedermann soll Zugang zum Wissen der Welt haben. Das ist unser wichtigster Grundsatz. Wenn Informationen zutreffend und belegt sind und der Artikel unseren Standards genügt, sind wir zu keinen Kompromissen bereit. Wir sperren keine Artikel, passen keine an und unterdrücken auch keine unliebsamen Fakten. Gerne zeigen wir den Verantwortlichen aber, wie die Artikel entstehen. Die Texte sind lange ausgehandelte Kompromisse zwischen den Autoren. Und die meisten sind sehr neutral.

Die Wikipedia ist zum globalenNachschlagewerk geworden. Wie vielfältig ist die Autorengemeinschaft zusammengesetzt?  
Überall auf der Welt wird in der Wikipedia gelesen. Aber bloss ein kleiner Prozentsatz der Menschen schreibt daran. Dies zu ändern, ist eine grosse Herausforderung. Zwar konnten wir den Autorenrückgang stoppen. Aber: Die meisten Artikel über Afrika oder die arabische Welt wurden von Europäern verfasst. Und nur 18 Prozent der biografischen Artikel beschreiben Frauen. Gründe dafür sind, dass es in der Gemeinschaft viel mehr Europäer als Afrikaner und viel mehr Autoren als Autorinnen gibt. Es ist äusserst wichtig, dass alle Gruppen gut vertreten sind: Wir brauchen Männer wie Frauen, Menschen aus allen Regionen und Religionen, Intellektuelle wie Arbeiter. Um niemanden abzuschrecken, versuchen wir, den Editor noch einfacher zu machen. Und wir versuchen, eine Atmosphäre zu schaffen, sodass sich auch neue Mitschreiberinnen und Mitschreiber wohlfühlen. 

Das gelingt nicht immer. Neueinsteiger klagen, dass sie von erfahrenen Nutzern abgekanzelt worden seien.
Die Gemeinschaft hat sich Regeln auferlegt. Schreibt jemand Inhalte ins Lexikon, die diesen nicht entsprechen, muss man sich stets fragen: Kennt die Person die Regeln nicht, weil sie neu ist, oder hält sie sich bewusst nicht daran? Erfahrene Nutzer korrigieren Kleinigkeiten einfach. Oder besser: Sie nehmen die Neulinge bei der Hand und machen sie freundlich mit den Regeln vertraut.

Sie dirigieren 300 Mitarbeitende der Wikimedia-Stiftung und 250 000 Freiwillige. Welche Gruppe ist einfacher zu führen? 
(lacht) Gemeinschaften lassen sich nicht führen. Ich versuche, zuzuhören und wichtige Anliegen aus den heterogenen Gruppen aufzunehmen. Andererseits ist es nicht immer einfach, diese den Angestellten zu vermitteln. Und eigene Ideen lassen sich nur umsetzen, wenn man auch die Mehrheit der Gemeinschaft davon überzeugen kann.

Unterscheiden Sie sich in diesem Punkt von Ihrer Vorgängerin Lila Tretikov, die ihren eigenen Plan durchzuziehen versuchte und den Bettel schliesslich hinschmiss?
Lila sah die grossen Umbrüche im Internet kommen. Und sie hatte Vorstellungen, wie die Wikipedia in diesem Umfeld rasch weiterentwickelt werden könnte. Dabei legte sie für Teile der Gemeinschaft ein zu forsches Tempo hin. Die Wikipedia ist zum einen ein technisches System, zum anderen aber ein komplexes soziales Gebilde. Wir alle lernten damals sehr viel. Als Managerin ein grosses Freiwilligenprojekt zu leiten, ist eine ganz eigene Disziplin.

(Redaktion Tamedia)

Erstellt: 09.11.2018, 19:05 Uhr

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