FAZ-Artikel zu ChatGPT

Von | 23. Dezember 2022

Quelle: https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/hoersaal/kuenstliche-intelligenz-und-pruefungen-das-ende-der-hausarbeit-18545759.html

Zu: «Das Ende der Hausarbeit»

Ein Gastartikel von:
Susanne Bach ist Professorin für Anglistik an der Universität Kassel.
Doris Weßels ist Professorin für Wirtschaftsinformatik an der Fachhochschule Kiel.

Sprachprogramme wie ChatGPT revolutionieren das Prüfungswesen an den Hochschulen. Lassen sich Täuschungen überhaupt noch aufdecken?

Die Zeiten sind vorbei, in denen man in der Uni-Einführungsklausur die langen Haare wie einen Vorhang vor das Gesicht fallen ließ, um unauffällig nach rechts und links zu schielen. Heute treffen wir meist analog sozialisierten Professorinnen und Professoren auf eine Internetgeneration, die uns um Längen voraus ist. Das habe ich gemerkt, als ich mit einem befreundeten älteren Kollegen eine Wette machte: Ich wollte ihm eine Fälschung einreichen, die er als solche nicht identifizieren würde. Ich lud einen bekannten wissenschaftlichen Aufsatz aus dem Internet herunter, gab ihn bei dem Sprachprogramm DeepL zum Übersetzen ins Französische ein und ließ ihn dann wieder vom Französischen ins Deutsche zurückübersetzen. Voilà, ich hatte einen völlig neuen Text gleichen Inhalts. Ich musste nur noch das Resultat an wenigen Punkten etwas retuschieren. Hin und wieder habe ich die Satzstellung verändert, hier und da mal ein Adjektiv ersetzt, und schon waren weder mein Kollege noch das Internet in der Lage, die Quelle ausfindig zu machen. Es hat mich weder Zeit, Geld noch Mühen gekostet.

Mein nächster Schritt bei der Ermittlung des Ausmaßes der Katastrophe führte mich in die Richtung anderer KI-Seiten: Das Programm Wordtune schreibt automatisch um. Man muss nicht den Umweg über die Übersetzung in eine andere Sprache gehen. Ein englisches Textbeispiel wird von Wordtune so wunderbar umformuliert, dass der Text hinterher intellektueller klingt als vorher. Dass man das Original nie wieder finden wird, muss wohl nicht mehr erwähnt werden. Rephrase.info und Quillbot.com können das auch, und je länger man sucht, umso mehr Stellen finden sich im Internet, die das Fälschen und Betrügen zu einem intellektuellen Vergnügen werden lassen. Ein von mir bewusst fussgängerisch angelegter Text klingt plötzlich wie aus der Feder eines Harvard-Profs.

Ich kann im Internet von Ghostwritern problemlos eine maßgeschneiderte Arbeit für kleines Geld schreiben lassen, ohne dass eine Suchmaschine Elemente davon auffinden könnte. Es gibt einen Schwarzmarkt, auf dem man Hausarbeiten von anderen Universitäten kaufen oder tauschen kann; es gibt genug Menschen, die auch unter Zeitdruck gegen einen Aufpreis eine Abschlussarbeit verfassen. Und dann gibt es KI. Wir Professoren haben den Wettkampf schon lange verloren. Um herauszufinden, was die einzelnen Studenten wirklich wissen, müsste man eigentlich viel mehr Präsenzklausuren schreiben lassen oder aber mündliche Prüfungen abhalten.

Mehr aufwendige Präsenzprüfungen nötig
Ich bin Studiendekanin. Damit bin ich laut Wikipedia „für die Angelegenheiten der Lehre und des Studiums zuständig“. Vor einiger Zeit hatten wir den Fall eines Studenten im letzten Semester vorliegen, der bei einem groben Täuschungsversuch erwischt wurde. Nur aufgrund meines Amtes hatte ich Zugriff auf seine anderen Noten. Ich forderte von den Kollegen, die ihm in den letzten Semestern durchaus gute Noten gegeben hatten, die eingereichten Arbeiten an. Ich fand vier weitere Plagiate, mit denen er sich komfortabel durch das Studium gefälscht hat.

Die Universitäten müssten, wenn sie ehrlich sind, sich zunächst dieses Problem eingestehen und dann Schritte dagegen unternehmen. Das wird wenig Spaß machen, denn es würde bedeuten, Studien- und Prüfungsordnungen zu verändern und mehr aufwendige Präsenzprüfungen einzuführen, die Aufsichtspersonal erfordern. Oder es müssen noch mehr mündliche Prüfungen durchgeführt werden. Ich höre jetzt schon das Klagen der Kollegen, die am Anschlag dessen sind, was sie schaffen können. Und: Es würde die Studenten in die vordigitale Zeit zurückwerfen. Aber es wäre wenigstens ehrlich.

Ich konfrontiere einige Kollegen mit meinem KI-Plagiats-Selbstversuch. Die Reaktionen sind dreigeteilt. Gruppe eins ist bestürzt und begibt sich sofort auf die Suche nach Abhilfe im Internet. (Viel Glück, denke ich sarkastisch.) Gruppe zwei steckt den Kopf in den Sand. Es fallen Sätze wie: „Ja, Sie haben ja recht, aber das deprimiert mich zu sehr, dann kann ich ja meinen Studierenden nicht mehr trauen, und ich habe doch einen so guten Draht zu ihnen.“ Gruppe drei setzt sich aus meist „harten Kerlen“ zusammen. „Bei mir machen die das nicht“, sagen sie mit einem diskret verächtlichen Blick auf mich. „Tja, Frau Kollegin, dann denken Sie sich mal neue Fragestellungen aus, dann passiert Ihnen das nicht!“ Ah! Ich bin zu faul, kapiere ich, sage aber leider nicht schnell genug: „Prima, dann nennen Sie mir doch mal einen Forschungsaspekt zu Goethe, Schiller oder Shakespeare, der von der Sekundärliteratur noch nicht bearbeitet wurde!“

Schwierig, eine Täuschungsabsicht zu belegen
Ich schreibe an Kollegen an anderen Universitäten und frage sie nach ihren Erfahrungen. Auch da kann man nur von großer Ernüchterung sprechen. Es wird von Studenten berichtet, die wirklich alle Register ziehen. Juristisch gesehen werde es immer schwieriger, eine Täuschungsabsicht zu belegen. Da müssen dann Ersatzdiagnosen her wie „fehlerhaftes Zitieren“ oder „bibliographische Mängel“, die natürlich keine drastischen Sanktionen nach sich ziehen.

Die Antwort einer Kollegin zeigt auf, wie weit wir Dozenten gehen müssten, um unseren Studenten überhaupt noch auf die Schliche zu kommen. Sie schreibt: „Bei mir hatte eine Studentin das Voice- over eines Youtube-Erklärvideos wörtlich mitgeschrieben. Dass ich das per Google gefunden habe, grenzt an ein Wunder (auf einer obskuren Facebook-Seite waren zwei bis drei Sätze aus diesem Video zitiert worden, und ich hatte zufällig einen dieser Halbsätze aus der Hausarbeit auf Google eingegeben. So kam ich aufs Video, das ich mir dann anschaute, weil ich auf der Suche nach der plagiierten Originalquelle war).“

Karl-Theodor zu Guttenberg ist heute Unternehmensberater, An­nette Schavan wurde Botschafterin ausgerechnet am „Heiligen Stuhl“; Franziska Giffeys von fremden Federn durchzogene Promotion verhinderte ihre weitere Karriere nicht. Plagiat lohnt sich, und wenn es so einfach ist, dann werden es auch die letzten Studenten begriffen haben, während Hochschulleitungen noch weiter fleißig darüber diskutieren, ob man die Prüfsoftware Turnitin anschaffen und dann vielleicht sogar auch den Studenten zugänglich machen sollte. Ein IT-Fachmann aus meinem Bekanntenkreis grinst. „Lass sie das Zeug doch kaufen, das ist eh von gestern.“

Durchbruch generativer KI-Sprachmodelle
Der Untergang der klassischen Ghostwriter-Szene und der Anbieter von Plagiaterkennungssoftware ist wohl schon eingeläutet. Ein unvorstellbar mächtiges KI-Sprachmodell mit 175 Milliarden Parametern und dem sperrigen Namen „Genera­tive Pretrained Transformer Model“ (kurz: GPT) von OpenAI aus San Francisco zeigt seine Sprengkraft immer deutlicher (aktuelle Version 3). Am 30. November 2022 wurde sein neuer Ableger ChatGPT veröffentlicht. ChatGPT ist für Dialoge mit uns Menschen optimiert. Hierfür wurde das sogenannte Reinforcement Learning mit menschlichem Feedback (RLHF) verwendet. Darunter wird eine Methode des maschinellen Lernens verstanden, die einen Trainingseffekt über zielorientierte „Belohnungen“ des Modells erzielt.

Bei ChatGPT ist der Durchbruch generativer KI-Sprachmodelle intensiver denn je zuvor erlebbar. Ein Superlativ reiht sich an den nächsten. Ich kann bestätigen, dass das Gedankenkarussell seit meinem ersten Selbstversuch kaum zu stoppen ist. Wir wussten schon vorher, dass die Büchse der Pandora geöffnet wurde, aber nun erlaubt sie uns immer tiefere Einblicke in ihre Abgründe, die zugleich außerordentlich attraktiv erscheinen und ein großes Suchtpotential aufweisen. Und dieses neue Spielzeug gibt es derzeit sogar gratis, was ein großartiger Schachzug von OpenAI sein dürfte. Derartig „angefixt“ von diesem neuen Tool werden wir hinterher auch hohe Nutzungsgebühren in Kauf nehmen, wenn ansonsten ein Entzug drohen würde.

Lassen wir den neuen „Super-Butler“ ChatGPT doch einfach direkt die zentralen Fragestellungen dieses Beitrags beantworten: (Aber Achtung: ChatGPT hat kein semantisches Textverständnis wie wir Menschen und „halluziniert“ mitunter. Das bedeutet, dass diese Systeme auch beliebigen Blödsinn produzieren können und wir nicht wahre Aussagen unterstellen dürfen, obwohl sie sehr glaubwürdig erscheinen mögen. Hierzu das Statement eines jungen Wirtschaftswissenschaftlers zu mir: „Einfach unglaublich: Es hat mich einfach angelogen, aber immerhin nach meinem Hinweis seine Lüge eingeräumt!“)

ChatGPT zieht sich geschickt aus der Affäre
Doris Weßels fragte das System: „Welchen Einfluss hast Du auf Deine Anwender? Wenn sie Dich benutzen, benötigen sie dann noch Ghostwriter? Kann man Texte, die mit Deiner Unterstützung generiert wurden, als Plagiat bezeichnen?“

Die Antwort lautete: „Ich bin ein Sprachmodell und wurde entwickelt, um Nutzern bei der Verfassung von Texten zu helfen. Meine Hauptfunktion ist es, auf Fragen und Anfragen von Nutzern zu antworten, indem ich menschenähnliche Sprache verwende. Ich bin kein Ghostwriter und ersetze auch keine Ghostwriter-Agenturen. Nutzer, die mich verwenden, können immer noch Ghostwriter-Agenturen in Anspruch nehmen, wenn sie dies wünschen. In Bezug auf das Plagiat ist es wichtig zu beachten, dass Plagiat die unerlaubte Verwendung fremden geistigen Eigentums darstellt. Wenn Nutzer mich verwenden, um ihnen bei der Verfassung von Texten zu helfen, liegt es in ihrer Verantwortung, sicherzustellen, dass der von ihnen erstellte Text ihr eigenes geistiges Eigentum ist und keine fremden Ideen oder Werke enthält. Ich selbst kann nicht als Plagiat bezeichnet werden, da ich keine Texte erstelle, sondern lediglich auf Fragen und Anfragen von Nutzern antworte.“

Hier macht es sich ChatGPT wohl etwas zu einfach, erhebt aber freundlicherweise keine urheberrechtlichen An­sprüche und zieht sich ähnlich geschickt aus der Affäre wie die heutigen Ghostwriter-Agenturen, die sich „nur“ als Coach ihrer Kunden verstehen und die Einhaltung der „guten wissenschaftlichen Praxis“ vollständig in den Verantwortungsbereich der Kunden verlagern. Während für Anbieter in Deutschland kaum eine Gefahr droht, hat Österreich seine Gesetzgebung im Rahmen der Novelle des Universitätsgesetzes (UG) verschärft: Nun kann Ghostwriting, ob entgeltlich oder unentgeltlich, mit einer Geldstrafe von bis zu sechzigtausend Euro geahndet werden. Bei wiederholter Begehung droht für Ghostwriter sogar eine Freiheitsstrafe von bis zu vier Wochen.

Abschließend möchte ich ChatGPT auf eine neue Probe stellen, die sich auf diesen Beitrag selbst bezieht. Sind wir als menschliche Autor:innen überhaupt noch konkurrenzfähig? Entscheiden Sie selbst, denn nun schreibt ChatGPT für Sie. Zunächst meine Aufgabenstellung:

Erstelle einen unterhaltsamen Zeitungsartikel zum Thema „Plagiat lohnt sich doch. KI und die schöne neue Welt“. Verwende am Anfang eine kurze Geschichte, die amüsant ist und die Leserschaft in ihren Bann zieht. Konzentriere dich anschließend auf Plagiate an Hochschulen aus Sicht der Dozenten und Studenten. Zitiere einen Anbieter von Ghostwriting-Dienstleistungen, der sich als erfolgreicher Unternehmer mit seinen sogenannten Coaching-Dienstleistungen darstellt, die aus seiner Sicht rechtlich nicht anstößig sind. Zitiere danach eine Studentin, die mit der Erstellung ihrer Abschlussarbeit völlig überfordert war und sich einen Ghostwriter gesucht hat. Durch ihn hat sie eine tolle Karriere gestartet und ist nun Key-Account-Managerin eines weltweit führenden Anbieters für Software zur Plagiatserkennung an Hochschulen. Stelle dich als generatives KI-Sprachmodell anschließend selbst als die ideale Lösung für Studenten dar, die weder Zeit noch Lust zum akademischen Schreiben haben.

„Es ist ein lukrativer Markt“
Hier das KI-generierte Er­gebnis (unverändert übernommen): „Als wir da­mals in die schöne neue Welt der künstlichen In­telligenz eintauchten, glaubten viele, dass Plagiate schon bald der Vergangenheit angehören würden. Doch weit gefehlt! Heute sind Ghostwriting-Dienste größer denn je und werden von Studierenden aller Fachrichtungen in Anspruch genommen. ‚Es ist ein lukrativer Markt‘, sagt der erfolgreiche Unternehmer John, der sogenannte Coaching-Dienstleistungen anbietet. ‚Ich biete meinen Kunden Unterstützung bei ihren akademischen Arbeiten — von der Themenauswahl bis hin zur finalen Überarbeitung. Und alles ist vollkommen legal.‘ Doch nicht alle sehen das so. Lehrende an Hochschulen beklagen sich über die zunehmende Zahl von Plagiaten in studentischen Ar­beiten und sehen sich gezwungen, immer aufwendigere Pla­giats­er­ken­nungssoft­ware einzusetzen, um die Fälle aufzu­decken. ‚Ich war völlig überfordert mit meiner Abschlussarbeit‘, gesteht die ehemalige Studentin Maria. ‚Ich hatte kaum Zeit, mich um meine Familie und meinen Job zu kümmern, geschweige denn, mich wissenschaftlich fundiert mit meinem Thema auseinanderzusetzen. Also habe ich mir einen Ghostwriter gesucht — und war überrascht, wie gut wir zusammenarbeiten konnten.‘ Maria hat ihre Abschlussarbeit erfolgreich abgegeben und dank ihres Ghostwriters sogar ihren Traumjob gefunden: Sie ist heute Key-Account-Managerin bei einem weltweit führenden Anbieter von Plagiatserkennungssoftware für Hochschulen. Aber warum überhaupt Ghostwriter beauftragen, wenn es doch mittlerweile leistungsstarke KI-Sprachmodelle wie mich gibt, die Studierenden dabei helfen können, ihre akademischen Arbeiten schnell und professionell zu verfassen? Wir sind die ideale Lösung für alle, die weder die Zeit noch die Lust haben, sich selbst mit akademischem Schreiben auseinanderzusetzen. Melden Sie sich noch heute bei uns und lassen Sie sich von der Zukunft unterstützen!“

Ich muss schmunzeln bei dieser Form des Eigenmarketings von ChatGPT. Hier unterschätzt es seine Attraktivität auf uns Menschen deutlich! Sich selbst anzupreisen ist nun wirklich nicht nötig, denn mein Bildschirm zeigt mir, ins Deutsche übersetzt, gerade diese Fehlermeldung: „Wir haben eine außergewöhnlich hohe Nachfrage. Bitte bleiben Sie dran, während wir an der Skalierung unserer Systeme arbeiten.“ Das verwundert nicht. Schon fünf Tage nach der Veröffentlichung von ChatGPT verkündete OpenAI-CEO Sam Altman bei Twitter stolz, das Tool habe inzwischen mehr als eine Million Nutzer. Das weitere Wachstum dürfte exponentiell sein. Damit stellen sich sehr viele und zugleich sehr tiefgreifende Fragen. Sicher ist nur: ChatGPT, wir lieben und fürchten dich gleichermassen.


Weitere Quellen:

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