Netzneutralität; Regulierung

Von | 20. Januar 2018

Wie die Netzneutralität reguliert werden sollte

NZZ: Jürg Müller 

Die Debatte um die Netzneutralität wird emotional geführt. Doch wissenschaftlich gibt es keinen Grund, weshalb man sie verabsolutieren sollte. Behörden tun gut daran, mit neuen Eingriffen zuzuwarten – auch in der Schweiz.

Telekomregulatoren haben bisher nicht um ihr Leben fürchten müssen. Das scheint sich nun zu ändern. So soll vergangenen Freitag Ajit Pai seinen Besuch einer Industriemesse wegen Morddrohungenabgebrochen haben. Pai ist Vorsitzender der US-Telekomaufsicht, jener Behörde, die vor wenigen Wochen die Regeln zur Netzneutralität aufgeweicht hat. Was steckt hinter dieser Regulierung, bei der es vermeintlich um Leben und Tod geht?

Unter Netzneutralität versteht man die grundsätzliche Gleichbehandlung von Daten bei der Übertragung im Internet. Dieses Prinzip wurde in den USA 2015 offiziell festgeschrieben und nun bereits wieder abgeschafft. Von solchen Hauruckübungen wurde man hierzulande verschont; die Schweiz hat nie eine strikte Netzneutralität gekannt. Debattiert wird über das Prinzip aber seit langem, und die Diskussionen dürften in den kommenden Monaten an Fahrt gewinnen.

Anstehende Gesetzesrevision

Schon bald wird nämlich die Teilrevision des Fernmeldegesetzes (FMG) in die eidgenössischen Räte kommen. Die Geister scheiden sich daran, ob und wie im FMG die Netzneutralität reguliert werden soll. Auf der einen Seite stehen Internetaktivisten und Tech-Firmen, die eine strenge Vorschrift fordern. Auf der anderen Seite finden sich die Telekomanbieter, die keine neue Regulierung wollen. Die Positionen widerspiegeln die divergierenden Geschäftsinteressen zwischen Telekomanbietern, welche die Netze betreiben, und den Tech-Firmen, welche die Netze nutzen. Die Debatte darf aber nicht auf diesen Konflikt reduziert werden.

Die Netzneutralität bestimmt, ob im Gewirr von Telekomkabeln alle Daten gleich behandelt werden müssen (Bild: Chris Ratcliffe / Bloomberg)

Das Internet ist mittlerweile für viele Lebensbereiche von zentraler Bedeutung. Die Frage, ob alle Daten gleich durch die Netze geleitet werden sollen, hat daher auch eine gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Dimension. Gewisse Regeln gelten als unumstritten. Aus demokratiepolitischen Überlegungen darf es beispielsweise nicht sein, dass eine Telekomfirma die Website einer Gewerkschaft ihrer Mitarbeiter blockiert – so geschehen in Kanada. In der Schweiz ist ein solches eigenmächtiges Blockieren indessen kein Thema, darauf haben sich Swisscom, Sunrise, Salt und die Kabelnetzbetreiber wie UPC in einem freiwilligen Verhaltenskodexverpflichtet.

Keine Offenlegung von Verletzungen

Was in dieser Selbstregulierung der Branche allerdings fehlt, ist Transparenz. Die Telekomfirmen müssen nicht von sich aus berichten, wenn sie gewisse Internetdienste verlangsamen oder priorisieren. Solche Informationen sind aber eine Grundvoraussetzung dafür, dass der Wettbewerb zwischen den Firmen spielen kann. Mit dem Verzicht einer Selbstverpflichtung auf Transparenz hat die Branche eine Chance verpasst. Wie beim Kauf einer Wurst will ein Käufer schliesslich wissen, was in seinem Internet drinsteckt – also ob jetzt Youtube verlangsamt wird oder eben nicht. Der bundesrätliche Entwurf zum FMG setzt hier an und sieht entsprechende Informationspflichten vor.

Für die Internetaktivisten reicht Transparenz alleine aber nicht. Ihnen geht es um mehr, nämlich um den Schutz des Internets als Innovationsmotor. Für sie braucht es eine strikte Netzneutralität, weil das Internet ein zweiseitiger Markt ist. Was heisst das? Auf der einen Seite stehen Konsumenten, die von Telekomfirmen wie Swisscom den Zugang zu Medieninhalten wie Videos und Blogs erhalten wollen. Auf der anderen Seite befinden sich die Anbieter solcher Inhalte, beispielsweise Netflix, die Zugang zu den Konsumenten wollen. Sowohl Inhalteanbieter wie auch Konsumenten profitieren von möglichst vielen Teilnehmern auf der jeweils anderen Seite – ein klassischer Netzwerkeffekt.

Im Endeffekt eine Preisvorschrift

Netzneutralität bedeutet nun nichts anderes, als dass Konsumenten zwar für den Internetanschluss und gewisse Qualitätsmerkmale zahlen, doch die Inhalteanbieter nicht zur Kasse gebeten werden; Telekomfirmen sollen nur auf der einen Seite des Marktes ein Entgelt verlangen dürfen. Netzneutralität ist also ein Synonym für eine staatliche Nullpreis-Vorschrift. Gewisse Ökonomen sind der Meinung, dass eine solche Regel wohlfahrtsfördernd ist. So würden Markteintrittshürden für neue Inhalteanbieter tief gehalten und dadurch Innovationen gefördert. Ohne Nullpreis-Vorschrift hätten es Tech-Startups schwerer, ihre neuen Produkte rasch und günstig in vielen Märkten zu placieren; der Innovationsmotor käme ins Stottern.

Wie beim Kauf einer Wurst will ein Käufer wissen, was in seinem Internet drinsteckt – also ob jetzt Youtube verlangsamt wird oder eben nicht.

Mit der Netzneutralität soll zudem eine Fragmentierung des Internets verhindert werden. Wenn Telekomfirmen begännen, Gebühren für eine bessere Datenübermittlung zu erheben, könnten gewisse Inhalte mancherorts nicht mehr zu haben sein. Der einst globale Markt zerfiele in kleinere Märkte, und die Netzwerkeffekte gingen verloren. Das gelte, so das Argument, auch schon bei einem Preis von nur leicht über null. Der Grund dafür sind die hohen Transaktionskosten: Für einen kleinen Internetanbieter ist es teuer, mit allen Telekomfirmen der Welt eine Übereinkunft zu erreichen.

Ein schwerer Eingriff

Eine Nullpreis-Vorschrift beschneidet aber klar die Wirtschaftsfreiheit. Ein solcher Eingriff kann allenfalls durch positive Wohlfahrtseffekte legitimiert werden, wie das in anderen Bereichen wie dem Wettbewerbsrecht der Fall ist. Zudem wurden auch schon Gesetze erlassen, um Innovation explizit zu fördern (z. B. das Immaterialgüterrecht). Dennoch stellt sich die Frage, ob eine strikte Netzneutralität einen verhältnismässigen Eingriff darstellt. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die grossen Tech-Giganten wie Google und Co. bereits heute Tatsachen geschaffen haben, die einem fragmentierten Internet sehr nahekommen.

Viele Konsumenten geben mittlerweile geschlossenen Systemen wie Facebook den Vorzug. So manche Interaktion über das Netz findet damit nicht mehr im offenen freien Internet statt. Die grossen Inhalteanbieter bauen dafür weltweit Subnetze auf. Von Unterseekabeln bis zur Zwischenspeicherung in den einzelnen Ländern haben Google und Co. eigene Infrastrukturen erstellt, um ihre Inhalte schneller um den Globus schicken zu können. Damit verschaffen sie sich Vorteile gegenüber kleinen Startups, was zumindest dem Geiste der Netzneutralität zuwiderläuft. Gleichzeitig helfen diese Investitionen aber dabei, dass es im Internet zu weniger Verstopfungen kommt, was den Startups auf den klassischen Kanälen wiederum hilft – die Sache ist wie bei der Netzneutralität nicht trivial.

Struktur des Internets im Wandel

Schliesslich gibt es Firmen wie Akamai, die Dienste anbieten, damit Inhalte über das Internet schneller beim Konsumenten landen. Über solche Content Delivery Networks (CDN) kann also schon heute mit Geld die Auslieferung von Inhalten beschleunigt werden. Die Existenz von CDN weist auch darauf hin, dass das Argument der hohen Transaktionskosten ohne Netzneutralität nicht stichhaltig ist. Die Logik lässt ausser acht, dass die Struktur des Internets im Fluss ist. Es ist wahrscheinlich, dass neue Firmen wie beispielsweise Akamai die Verwaltung neuer Gebühren übernehmen und sich dabei zu einem Gegengewicht zu den Telekomfirmen aufschwingen – zweiseitige Märkte per se sind noch kein Argument für eine Regulierung.

Es erstaunt daher nicht, dass sich einige Ökonomen explizit gegen eine Nullpreis-Vorschrift aussprechen. Eine Reihe namhafter Wissenschafter hat schon 2010 vor der Einführung einer Netzneutralität in den USA gewarnt. Sollte eine Telekomfirma einen Inhalteanbieter in einer ungebührlichen Weise diskriminieren, könnte dies mit bestehenden rechtlichen Instrumenten geahndet werden. Generell dürfte das Wettbewerbsrecht bei vielen problematischen Verletzungen der Netzneutralität anwendbar sein. Allerdings besteht hier das Problem, dass die Verfahren oft sehr lange dauern.

Starre Regulierung vermeiden

Was für Schlüsse können nun für die anstehende FMG-Teilrevision gezogen werden? Einerseits scheint die Forderung des Bundesrats nach mehr Transparenz sinnvoll zu sein. Andererseits ist aber mehr als fraglich, ob es auch eine explizite Nullpreis-Vorschrift braucht. In der Wissenschaft gibt es noch keinen Konsens darüber, ob eine strikte Netzneutralität die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt steigert oder vermindert. Aus liberaler Sicht sollte daher auf eine starre Ex-ante-Regulierung eindeutig verzichtet werden.

Je nachdem, wie stark man die Vor- und Nachteile wettbewerbsrechtlicher Verfahren gewichtet, wäre eventuell eine Ex-post-Regulierung denkbar. So könnte der Telekomregulator rasch eingreifen, wenn ein diskriminierendes Verhalten negative Wohlfahrtseffekte zeitigte – hier offenbart sich einmal mehr das Spannungsfeld zwischen Wettbewerbsrecht und sektorspezifischer Regulierung, in dem sich das FMG seit je bewegt.

Die optimale Regulierung der Netzneutralität wirft komplexe volkswirtschaftliche und rechtsdogmatische Fragen auf. Das mag vielen Telekomregulatoren den Schlaf rauben. Weshalb sich deswegen gewisse Zeitgenossen aber gleich zu Mord und Totschlag verleitet sehen, ist unverständlich. Wenn auch vieles bei der Netzneutralität unklar ist, so scheint doch eines gewiss: Etwas weniger Emotionen täten der Debatte gut.

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