PERSONALISIERTE MEDIZIN-Big-Data

Von | 8. März 2020

Gastkommentar von von Christoph Franz

Quelle: NZZ: https://epaper.nzz.ch/#article/6/Neue%20Zürcher%20Zeitung/2018-07-04/10/233127510

Vor 15 Jahren, als die erste Sequenzierung des menschlichen Genoms gelang, wurden für diese Pionierleistung zehn Jahre, die Arbeit von tausend Forschern und mehrere Milliarden Dollar benötigt. Heute kann ein ganzes Genom für tausend Dollar an einem einzigen Tag sequenziert werden. Der technologische Fortschritt in der Medizin ist atemberaubend und generiert immer mehr Daten. Doch verglichen mit anderen Branchen hinkt der Gesundheitssektor bei der Digitalisierung hinterher. Erfreulich ist deshalb, dass gerade in letzter Zeit immer mehr medizinische Daten in digitaler Form erhoben werden, in der Schweiz etwa durch die Einführung von elektronischen Patientendossiers in den Spitälern. Allerdings werden sie noch zu wenig ausgetauscht und ausgewertet. Ihr Potenzial wird noch zu wenig genutzt.

Weshalb ist dies wichtig? Zunächst: Für die forschende Pharmaindustrie waren Daten schon immer zentral, um anhand von klinischen Studien belegen zu können, dass neue Medikamente sicher und wirksam sind. Doch an diesen Studien nehmen nur rund 4 Prozent aller Patienten teil. Nun eröffnet die Digitalisierung neue Horizonte. Es muss uns gelingen, mittels modernster Informations- und Computertechnologie die enormen Datenmengen, die in den Spitälern und der ärztlichen Anwendungspraxis, der sogenannten «Real World», generiert werden, in anonymisierter Form zu nutzen und möglichst mit unseren internen Daten aus klinischen Studien zu verknüpfen.

So können sehr wertvolle Informationen für die Erforschung und Entwicklung neuer Medikamente gewonnen werden. Gerade mit Blick auf die vielen noch unheilbaren Krankheiten liegt da ein unglaublicher Schatz, denn aus grossen Datenmengen kann man Erkenntnisse ziehen, die in kleineren klinischen Studien nicht möglich sind. Die personalisierte Medizin – also eine immer individuellere Behandlung von Patienten – wird dadurch absehbar einen Riesenschub bekommen.

Am weitesten fortgeschritten ist diese Entwicklung bei der Krebsbehandlung. Um die personalisierte Medizin weiter voranzubringen, ist Roche Partnerschaften mit spezialisierten amerikanischen Unternehmen eingegangen, die unser eigenes Expertenwissen stärken und ergänzen und uns ermöglichen, mehr über die 96 Prozent der Patienten zu erfahren, die nicht an klinischen Studien teilnehmen. Über die Anfang Jahr vollständig übernommene Firma Flatiron Health hat Roche Zugang zu einer Vielzahl von Datensätzen hoher Qualität aus der Praxis der Krebsbehandlung erhalten. Wie gewinnen wir aus diesen «Real World»-Daten Wissen? Zunächst werden unstrukturierte Daten von Patientinnen und Patienten, zum Beispiel Arztberichte, Röntgenbilder und pathologische Befunde, gesammelt. Diese werden durch Experten am Computer systematisiert und in eine Datenbank eingepflegt. Dabei machen wir sehr strenge Vorgaben, damit die Einträge qualitativ einwandfrei sind und die Anonymität gewahrt bleibt. Erst dann kann es an die Auswertung gehen, die aufgrund der hohen Komplexität der Daten anspruchsvoll ist und die Anwendung modernster Analysemethoden erfordert. Flatiron Health arbeitet nicht nur mit Roche, sondern mit vielen andern Unternehmen und Institutionen zusammen. Es ist entscheidend, dass die Daten breit verfügbar sind. Nur so können alle wesentlichen Akteure zusammen Erkenntnisse aus grossen Datenmengen gewinnen und gemeinsam die personalisierte Krebsbehandlung vorantreiben.

Um neue Perspektiven für die Medizin zu gewinnen, arbeiten Roche und Flatiron Health auch mit einem anderen strategischen Partner von Roche, Foundation Medicine, zusammen. Dieses Unternehmen führt bei Krebspatienten Analysen des Genoms durch, um die jeweils geeignetste, gezielt wirkende Krebstherapie zu finden. Dieses Vorgehen etabliert sich zunehmend in der klinischen Praxis. In einem nächsten Schritt lassen sich die Behandlungsergebnisse von Patienten mit ihrer Genomanalyse abgleichen. So können wir immer besser verstehen, welche Therapie bei wem am besten wirkt und neue Ansätze entdecken. Dieses Wissen trägt auch dazu bei, neue Wege für die Zulassung von Medikamenten zu finden, damit Krebstherapien den Patienten rascher zur Verfügung stehen. Bereits konnte Roche dank dem Einbezug von Real-World-Daten ein neues Krebsmedikament den Patienten in 20 Ländern rund ein Jahr früher zur Verfügung stellen.

Diese Beispiele belegen die Schlüsselrolle von Daten für Fortschritte in der personalisierten Medizin. Eine Herausforderung, insbesondere in Europa, ist der Zugang zu Daten aus der Praxis. Dabei ist es essenziell, den Datenaustausch mit dem Datenschutz in Einklang zu bringen. Ziel einer klugen Datenpolitik sollte sein, den Menschen Sicherheit zu geben, dass ihre Daten nicht missbraucht werden, ohne jedoch die Datennutzung zu verhindern. Hier läuft Europa Gefahr, gegenüber den USA und China ins Hintertreffen zu geraten. Dies wäre sehr bedauerlich. Denn die in Fahrt kommende Digitalisierung im Gesundheitswesen bietet enorme Chancen, aus einem rasch wachsenden Berg an Informationen Wissen für den Patienten zu generieren. Wir sollten die kostbaren Informationen von Patienten sorgfältig nutzen. Das sind wir ihnen schuldig.

Christoph Franz ist Verwaltungsratspräsident von Roche. Er debattierte am NZZ-Podium Berlin vom 15. Mai 2018 zum Thema «Modern Times».

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