Verbrechensbekämpfung oder Verlust der Privatsphäre

Von | 7. Oktober 2019

NZZ, 7.10.2019, von Marco Kauffmann Bossart, Delhi

Indiens Polizei rüstet auf. Sie will ein nationales Überwachungssystem aufbauen, das Bilder von Live-Kameras im öffentlichen Raum mit Datenbanken mit mutmasslichen Straftätern, Terrorverdächtigen oder vermissten Kindern abgleicht. Erfasst das Kameraauge eine Person, die mit Bildern auf Fahndungslisten steht, wird Alarm ausgelöst. Firmen, die in der Technologie zur Gesichtserkennung über einen Leistungsausweis verfügen, wurden in einer Ausschreibung eingeladen, Offerten einzureichen. Deadline ist der 11. Oktober. Die personell unterdotierte Polizei sieht in der Technologie ein wirkungsvolles Mittel, ihre Ermittlungserfolge zu steigern. 

Fehlende Transparenz 

NGO reagierten beunruhigt auf die Ausschreibung, zumal Indien kein Datenschutzgesetz kennt. Sie weisen darauf hin, dass die Gesichtserkennung auch zur Schnüffelei genutzt werden könnte. So liesse sich feststellen, wo sich bestimmte Personen aufgehalten und wen sie getroffen haben. Nicht nur für Bewohner der Unruheprovinz Kaschmir, in der Sicherheitskräfte unliebsame Politiker und Menschenrechtsaktivisten observieren, ist dies eine unangenehme Vorstellung. Kritiker warnen vor einer Massenüberwachung und einer hohen Missbrauchsgefahr.

Das Oberste Gericht hielt 2017 zwar in einem Grundsatzentscheid fest, dass die Privatsphäre der Bürger zu schützen sei. Doch steckt ein Entwurf für ein Datenschutzgesetz in der Bürokratie fest. Die indische Internet Freedom Foundation (IFF) hat die Regierung aufgefordert, Interessenvertretern die Möglichkeit zu geben, sich an der Diskussion über die Ausgestaltung des Gesetzes zu beteiligen und Klarheit über das weitere Vorgehen zu schaffen. Ein Schreiben, das die IFF vor mehr als zwei Monaten an die zuständigen Ministerien schickte, blieb unbeantwortet. 

Apar Gupta, der Leiter der IFF, vermisst eine transparente Diskussion über das neue Gesetz. Er fürchtet, dass dieses, ohne dass die Meinung der Zivilgesellschaft eingeholt wird, direkt dem Parlament vorgelegt wird. In der Legislative hat die rechtsnationalistische BJP von Premierminister Narendra Modi eine absolute Mehrheit. Der Schutz der Privatsphäre gehört nicht zu den Kernanliegen der BJP. Ohne adäquate Checks und Balances dürfte der Staat in Versuchung geraten, die Daten zu fragwürdigen Zwecken zu nutzen, zitierte die «Financial Times» die regierungsnahe Observer Research Foundation.

Daten auf dem Schwarzmarkt

Die Skepsis von Aktivisten und Experten hängt wohl auch damit zusammen, dass der indische Staat bereits in den vergangenen Jahren seine Sammeltätigkeit stark intensiviert hat. Für das Identifizierungsprogramm Aadhaar sind die Fingerabdrücke und der Scan der Iris von mehr als einer Milliarde Inderinnen und Inder gespeichert worden. Das Ergebnis ist die grösste biometrische Datensammlung der Welt.

Aadhaar (Hindi für «Fundament») wurde ursprünglich mit dem Gedanken konzipiert, Korruption bei Sozialhilfebezügen den Garaus zu machen. Das Programm ordnet jeder und jedem eine Identifikationsnummer zu. Wenngleich keine gesetzliche Pflicht besteht, sich biometrisch vermessen zu lassen, wird die Nummer inzwischen auch bei der Eröffnung eines Bankkontos und bei immer mehr Alltagsgeschäften verlangt. Manche Inderinnen und Inder anerkennen zwar, dass die 12-stellige ID den Alltag erleichtert. Gleichzeitig wundern sie sich, wie weit dieses System gehen soll. Nicht aus der Luft gegriffen sind Befürchtungen, die ID könnte den Staat dazu verleiten, seine Bürger auszuspionieren. Auch bestehen Zweifel, ob die Datensätze in sicheren Händen sind. So sollen Betreiber von Aadhaar-Erfassungsstationen die Informationen auf dem Schwarzmarkt zum Verkauf angeboten haben. 

Das Gesicht als Pass

Laut Medienberichten hat die indische Polizei beantragt, ebenfalls auf die Aadhaar-Datenbank zuzugreifen. Dies lehnte die zuständige Regierungsbehörde, die Unique Identification Authority of India, indes ab. Ausnahmen soll es nur geben, wenn die nationale Sicherheit tangiert ist.

Die Gesichtserkennungstechnologie wird in Indien bereits jetzt an einigen Flughäfen getestet. Dabei messen 3-D-Kameras die Abstände verschiedener Punkte im Gesicht, etwa die Länge der Nase oder den Augenabstand. Aus den Daten wird ein Code erstellt, der Gesichter eindeutig identifizieren soll. So brauchen Passagiere am Flughafen von Bangalore zum Beispiel, einmal registriert, weder Bordkarte noch Pass – sofern das System ohne Störungen funktioniert. Wer hingegen eine reguläre Kontrolle vorzieht, muss viel länger anstehen. Bei diesen Versuchen wird jedoch explizit das Einverständnis der Reisenden eingeholt. In Mumbai, Chennai und Amritsar sind Überwachungskameras auf Bahnhöfen oder Einkaufszentren mit der Technologie ausgerüstet worden. 

China ist bei der Anwendung der Technologie schon bedeutend weiter. So können Kunden in Geschäften sozusagen mit ihrem Gesicht bezahlen. China belässt es freilich nicht bei dieser kommerziellen Nutzung. Hightech-Kameras, die Gesichter vermessen und dadurch Personen identifizieren, kommen unter anderem in Xinjiang zum Einsatz, wo Pekings Machthaber die muslimischen Uiguren observieren.

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