Elektronische Identität bindet

Von | 9. Dezember 2017

Gastkommentar
von Matthias Meyer

Die beiden staatsnahen Betriebe Post und SBB haben kürzlich die Öffentlichkeit darüber informiert, dass sie ein Verfahren zur Vergabe, Prüfung und Sicherung von elektronischen ID entwickeln und anschliessend der Schweizer Bevölkerung (neben anderen ausgewählten Firmen) eine individuelle, elektronische ID zur persönlichen Nutzung anbieten würden. Dies, nachdem der Bund beschlossen hatte, diese Dienstleistung an Private zu übergeben. Damit ist eine Entwicklung in Gang gesetzt worden, die an den Grundlagen des heutigen Staatsverständnisses rüttelt und letztlich zur Auflösung der traditionellen Staaten führen könnte.

Die Verleihung der rechtlichen Identität eines Menschen ist in Kontinentaleuropa – anders als in Ländern mit dem Common-Law-Rechtssystem – eng gekoppelt an die Gewährung fundamentaler Menschenrechte. Bei der rechtlichen Identität spielten bisher der räumliche Bezug zum Staatsgebiet sowie die Staatsbürgerschaft die wichtigsten Rollen. Zudem entwickeln Menschen mit der gleichen rechtlichen Identität (Staatszugehörigkeit) auch ein auf dieser Identität basierendes Wir-Gefühl.

Mit dem digitalen Wandel unserer Gesellschaft ist unbestreitbar auch eine überprüfbare, eindeutig identifizierbare digitale Identität notwendig geworden. In vielen Bereichen sind auch die Rechte der Menschen in der digitalen Welt völlig ungeklärt. Aber statt dass der Bund zusammen mit den Kantonen diese offenen Punkte zügig klärt, hat er die Vergabe der elektronischen Identität zum Marktgegenstand erklärt und privaten Anbietern überlassen.

Dies kann verschiedene Entwicklungen zur Folge haben: Da erstens eine private Firma mit ihrer Dienstleistung (hier die Entwicklung und spätere Vergabe bzw. Verwaltung der elektronischen Identitäten) Geld verdienen muss, müssen Menschen, die eine elektronische Identität haben möchten, entweder dafür bezahlen oder aber einwilligen, dass ihre persönlichen Daten gewinnbringend eingesetzt werden. Da jedoch eine elektronische Identität über kurz oder lang für alle Bürger unabdingbar sein wird (auch im Behördenverkehr), entsteht nicht eine freie Marktsituation, sondern eine Situation, in der die einen Marktteilnehmer (Konsumenten) quasi zum Konsum verpflichtet sind und die anderen (Anbieter) geschützt durch staatliche Lizenzen anbieten können. Die Folgen derartiger Marktkonstellationen sind bekannt: ein nicht optimiertes, überteuertes Produkt vonseiten der Anbieter, zu hohe Preise aufseiten der Kunden.

Zweitens ist die digitale Welt zu einer gewichtigen Parallelwelt der physischen Welt geworden. Zurzeit ist nicht absehbar, welche Formen des sozialen und gesellschaftlichen Austausches neu entstehen und welche Folgen diese haben werden.

Sicher ist, dass wie bei der rechtlichen Identität auch über die elektronische Identität eine Gruppenbildung in Gang gesetzt werden kann und die Gruppenmitglieder ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln können. Und wenn zu einem späteren Zeitpunkt die elektronische Identität wichtiger als die physische wird, dann kann eine Situation entstehen, in der die staatsbasierende Rechtsidentität unbedeutend wird. Findet eine solche Gruppenbildung statt, wird es wichtig werden, ob man «Post-ler», «Google-ler» oder «UBS-ler» ist. Dies muss per se nicht schlecht sein, kritisch ist aber zu hinterfragen, ob nichtdemokratische Gebilde, wie es internationale Firmen sind, die neuen «Nationen» für uns werden sollen.

Deshalb hat der Bund möglicherweise mit seinem Entscheid, das Projekt der elektronischen Identität nicht mehr weiterzuentwickeln, den ersten Grundstein zur Auflösung des traditionellen Rechtsstaates gelegt: In dem Moment, da die digitale Identität wichtiger wird als die traditionelle, rechtsstaatliche Identität, wird die Bindung zum Rechtsstaat stark abnehmen und dessen Bedeutung zurückgehen. Es erstaunt deshalb nicht, dass 74 Prozent der Befragten in einer repräsentativen Umfrage des Branchenverbands Swiss Fin Tech Innovations die öffentliche Hand als E-ID-Anbieter bevorzugen.

Matthias Meyer ist Dozent am Institut für Nonprofit- und Public Management der Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Wirtschaft.

Aus dem NZZ-E-Paper vom 19.10.2017; https://www.nzz.ch/meinung/elektronische-id-sind-staatsaufgabe-ld.1322701

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